Die große Tuschezeichnung entstand für das Ausstellungsprojekt „WEG“ der Künstlergruppe Acht. Die Objektsprache eines Faltplans von Italien hatte mich gereizt, gegen die strikt vermessene Zeichnung von Wegeverbindungen, Orten und Grenzen etwas zu setzen, eine andere, lebendige, auch planlose Form von Wegen. Die gedruckte Karte ist kaum zu erkennen; ich habe die Rückseite mit ihrer regelmäßigen Faltstruktur benutzt. Die Tuschelinien entstanden spontan, gestisch, mit dem Pinsel und geschüttet.
Ich schicke das voraus, damit nicht das Missverständnis entsteht, mir sei es beim Zeichnen um die Illustrierung der folgenden Gedanken gegangen. Die Zeichnung hat zunächst einmal ihre eigenen Wege genommen. Das, was entstanden ist, löst erst im Nach-Denken die verbale Umschreibung der sichtbaren Gestalt aus.
Das Netzwerk der Italienkarte – es spielt keine Rolle, dass es Italien ist – ist etwas fundamental anderes als die Weg-Zeichnung. Im Liniennetz werden Orte durch Strecken verbunden, die einen möglichst kurzen Weg weisen. Autobahnen und Eisenbahnlinien nehmen dabei viel weniger Rücksicht auf die Topografie und die Anwohner als die kleinen Straßen, die einmal auf den Wegen früherer Fußpfade entstanden sind. Es geht um Tempo, um die kürzeste Verbindung zu den Verknüpfungspunkten. Die Dauer des Weges wird eher als Nachteil empfunden. Transportwege müssen kurz sein, fordert die Ökonomie. Zeit ist Macht – das gilt für Rohstoffe, für Waren, für Daten und auch für Menschen. In den Machtspielen um Verbindungslinien ist das aktuelle Stichwort „Pipeline“.
Ganz anders die Wanderung, die offen ist für Umwege, die sich Zeit nimmt für Entdeckungen. Man hat ein Ziel, kann es aber auch ändern. Es geht nicht in erster Linie ums Ankommen. Solche Wege, meist Fußwege, stehen in einem inneren Zusammenhang mit den Wegen der Naturvölker, die aus ihren Erwanderungen in verschiedenen Formen ihre eigenen Karten entwarfen, Flechtwerke von Lebenslinien, die im Gegensatz zu den Messtischblättern verworren und voller Poesie erscheinen – was sie ja auch waren.
Solches „Wandern ist weder ort-los noch ort-gebunden, es ist ort-schaffend“, schreibt Tim Ingold in seinem Buch „Eine kurze Geschichte der Linien“. In seinem Text ist der metaphorische Sinn des Wege-Findens zentral: Es geht immer auch um die gestische Zeichnung, die ihre Spur und ihre Wegmarken setzt, als entschieden subjektiver Akt. „Die Spur der Geste bzw. die Linie, die sich in einem Spaziergang frei ergeht, hat nicht das Geringste mit der Disziplin der Kartografie zu tun. Anstatt ein Teil der Karte zu werden, gilt sie als zu tilgende Störung“, so Ingold im Zusammenhang mit Handzeichnungen auf Karten.